Verträumter Realist

Gustave Courbet ist in Frankfurt eine großartige Schau gewidmet


Oh Schreck! Der junge Mann scheint völlig aus der Fassung geraten zu sein. Er hat die Augen weit aufgerissen und lässt sich unter Zuhilfenahme der Hände die Haare zu Berge stehen. Statt einen vorteilhaften Eindruck schinden zu wollen, stellt sich uns der französische Maler Gustave Courbet (1819-1877) in seinem um 1844 geschaffenen Selbstbildnis als Verzweifelter dar. Klaus Herding diagnostiziert: "Gleichzeitig artikulieren sich in dem Selbstbildnis berufliche Ängste und der Drang, sich durchzusetzen."


Herding ist Kurator einer großartigen Schau, die uns in der Frankfurter Schirn Kunsthalle rund 100 packende Bilder des berühmten Malers beschert. Gemeinhin wird er als bedeutendster Vorkämpfer einer politisch-realistischen Malerei gewürdigt. Doch Herding schlägt uns vor, Courbets Bilder auch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: "Er war einer der großen Träumer der Geschichte." Und noch etwas hat der Kurator entdeckt. Er betrachtet Courbet als Wegbereiter des Surrealismus und anderer Kunstströmungen der Moderne: "In vielen Bildern wird der Betrachter aufgefordert, hinter der Wiedergabe des Gegenstandes nach tieferen Sinnschichten zu suchen, aber auch die Malweise selbst bis hin zur Abstraktion auf sich wirken zu lassen."


Als Kennzeichen des Realismus gilt die unbeschönigte Darstellung von Menschen in ihrer banalen Alltäglichkeit. Das war unerhört in einer Zeit, welche in der Malerei die Verklärung des Motivs zur Konvention erhoben hatte. Und so rief das für den Geschmack der Zeitgenossen in Anbetracht der dargestellten "kleinen Leute" unangemessen großformatige Gemälde "Die Rückkehr vom Markt" (1850-1855) bei seiner Präsentation im Pariser Salon, der alljährlichen Leistungsschau der Künstler, den von Courbet erhofften Skandal hervor. Der war nützlich, da er den Maler bekannt machte. Und was zeigt das Bild? Sieben in sich gekehrte Männer und Frauen, die mit Mastochsen, Pferden und Warenkörben ihres Weges ziehen. In den Vordergrund hat sich ein Schweinchen gespielt, das der hinterdrein trottende Bauer am Hinterbein angeleint hat.


Auf vielen anderen Gemälden jedoch geht es eher traumverloren zu. Paradebeispiel ist das Großformat "Mädchen an der Seine, im Sommer" (1856/57), das schon Paul Cézanne und Pablo Picasso begeistert hat. Es zeigt zwei im Grünen liegende junge Damen. Die vorn schaut uns aus halb geschlossenen Augen an: sinnlich, einladend und auch vorwurfsvoll. Die dahinter scheint mit sich und der Welt zufrieden: Versonnen blickt sie seitlich aus dem Bild. Im hinter ihnen festgemachten Ruderboot liegt ein Strohhut wie ihn Männer der guten Gesellschaft in ihrer Freizeit trugen - hat sich der Liebhaber davongemacht? Klaus Herding vermutet: "Beide Frauen sinnen über Begierde und Vergeblichkeit des Liebesverlangens nach."


Beim weiteren Rundgang treffen wir auf Porträts, die etwa den für seinen Gedichtband "Die Blumen des Bösen" berühmten Kunstkritiker und Dichter Charles Baudelaire zeigen, Stillleben und Landschaften. Besonders bemerkenswert sind das "Stillleben mit Fasanen und Äpfeln" (1871) und das "Stillleben mit roten Äpfeln" (1871/72). Die hat Courbet während und kurz nach seinem Gefängnisaufenthalt gemalt, den ihm seine Beteiligung am Aufstand der Pariser Commune eingebracht hatte. Beide Stillleben wirken befremdlich. In düsterer Landschaft liegen wie arrangiert und zugleich achtlos zusammengekehrt die voluminösen und übernatürlich großen schadhafte Früchte. Hat Courbet "damit zugleich seinen Lebenswillen und seine Todesangst" reflektiert, wie Klaus Herding vermutet?


Heiter und entspannt wirkt dagegen der "Sonnenuntergang mit Segelbooten" (um 1869 oder um 1874). Einerseits betont Courbet seinen Details außer acht lassenden, zur Abstraktion tendierenden Umgang mit der teils glatt gestrichenen, teils reliefhaft aufgetragenen Farbmaterie. Doch trotzdem stellen sich andererseits eine gegenständliche Illusion und eine Bildstimmung ein. Dieses Doppelspiel zeichnet auch die "Brandungswogen mit drei Segelbooten" (um 1870) aus. Unter schweren Gewitterwolken sind die verschwindend kleinen Boote den Naturgewalten ausgeliefert. Das hochdramatische Stimmungsbild bezieht seine Betrachter mit ein: bedrohlich rollen die Brandungswellen auf uns zu.


Zur Person: Gustave Courbet

Gustave Courbet wurde 1819 in Ornans als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren. Seinen Durchbruch als Maler hatte er 1850 auf dem Pariser Salon. Courbet lehnte überkommene Lebensformen wie die Monarchie ab, setzte sich für die Demokratie, den Pazifismus und die freie Liebe ein. Ebenso radikal waren seine künstlerischen Anschauungen: Er wandte sich gegen die altbackene idealistische Malerei zugunsten des freien und persönlichen künstlerischen Ausdrucks. In Frankreich brachte ihm das den Titel "Maler des Hässlichen" ein. In Deutschland feierte er jedoch große Erfolge und beeinflusste mit seinem Schaffen die deutsche Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein Lebensabend wurde überschattet vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. In dessen Folge wurde im März 1871 die sozialistische Pariser Commune gegründet. Die stürzte die zu Ehren der Napoleonischen Kriege errichtete Vendome-Säule. Nach der Niederschlagung der Commune wurde Courbet der Mittäterschaft am Säulensturz beschuldigt und zu sechs Monaten Haft verurteilt. Als der Prozess 1873 erneut aufgerollt wurde, flüchtete Courbet in die Schweiz. In Abwesenheit wurde ihm die Alleinschuld am Säulensturz angelastet. Er wurde zur Erstattung der enorm hohen Wiederherstellungskosten verurteilt. Kurz bevor die erste Rate fällig wurde starb Gustave Courbet am 31. Dezember 1877 in der Schweiz.


Courbet: 15.10.2010 bis 30.1.2011 in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main. Di., Fr.-So. 10-19 Uhr, Mi., Do. 10-22 Uhr. Informationen: Tel.: 069-2998820, Internet: www.schirn.de. Der Katalog aus dem Hatje Cantz Verlag kostet in der Schau 34,80 Euro, Im Buchhandel 39,80 Euro


Text: Veit-Mario Thiede, Goethestraße 100, 34119 Kassel, Tel: 0171-3860734, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


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